Im Rahmen des Vynhoven-Jahres in Neersen habe ich am 01. Juni einen Vortrag gehalten. Da es Nachfragen gab, wo man das nachlesen kann, veröffentliche ich den Text gerne hier auf der Homepage.
Vortrag am 1. Juni 2024 in Neersen aus Anlass des „Vynhoven-Jahres“
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
wie stellen Sie sich das himmlische Jerusalem vor? Als einen Ort des Friedens, der Freude, der Einheit mit Gott? Einen Ort, an dem es keine Not und keine Schmerzen gibt? An dem wir von allen Sorgen unseres irdischen Alltags befreit sind?
Wer als Christ bei uns am Niederrhein aufgewachsen ist, der kennt die Schilderung in der Offenbarung des Johannes (Kap. 21), wonach am Ende aller Tage ein neues Jerusalem entstehen werde: das himmlische Jerusalem. Dem gehe ein Kampf zwischen Gott und dem Teufel voraus, den Gott siegreich bestehen und gewinnen werde. Dann aber werde das alte Jerusalem verschwinden und durch das neue Jerusalem ersetzt. Dieses neue Jerusalem soll – so heißt es bei Johannes – von gleißendem Licht strahlen, aus glasartigem Gold und von würfelförmiger Gestalt sein. Die Bibel schmückt diese Beschreibung weiter aus. Für die Menschen seiner Zeit muss diese Verheißung als die Ankündigung des wahren Paradieses gewirkt haben. Diese Verheißung der Erlösung der Menschheit hat die Christen seit 2000 Jahren beschäftigt. Und zwar in sehr unterschiedlicher Weise.
Hinter uns liegen in den letzten Wochen Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Wir glauben, dass Jesus zu seinem Vater zurückgekehrt ist und feiern an Pfingsten, dass uns – nicht zuletzt zur Fortsetzung seiner Werke auf Erden – der Heilige Geist geschenkt worden ist. Die Verheißung des himmlischen Jerusalems steht im Raum. Wenn man es einmal so interpretieren will: wir sind aufgerufen, an der Vollendung der christlichen Botschaft mitzuwirken. Wir sind eingeladen, schon zu unseren Lebzeiten daran mitzuarbeiten, dass das himmlische Jerusalem Wirklichkeit werden kann.
Diese Einladung hat Menschen zu anderen Zeiten noch deutlich intensiver beschäftigt als in unserer Zeit. So war es in den Zeiten der Kreuzzüge ab dem 12.Jahrhundert eine gängige Vorstellung, dass die Christen aufgerufen seien, die Stadt Jerusalem gewaltsam von den muslimischen Herrschern zu befreien und dadurch die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass das himmlische Jerusalem kommen könne. Tausende machten sich aus ganz Westeuropa auf den Weg in den Nahen Osten, um die heiligen Stätten des Christentums zu befreien. Die Folge waren jahrzehntelange gewaltsame Auseinandersetzungen. Kreuzzüge gab es in der Folge aber nicht nur in Richtung Jerusalem, sondern auch nach Südfrankreich gegen die Katharer, denen der Papst Ketzerei vorwarf. Mit dem himmlischen Jerusalem hatte das weniger zu tun.
Der Streit um den richtigen Glauben hat im Christentum jedenfalls seit dieser Zeit immer wieder zu Gewalt, teilweise auch zu jahrzehntelangen Kriegen geführt. Diese Gewalt richtete sich nicht nur gegen Angehörige anderer Glaubensrichtungen, seien es Muslime, Juden oder Heiden. Sie wütete immer wieder auch innerhalb des Christentums. Ketzer wurden verfolgt, Glaubenskriege angezettelt und Rache organisiert. Vielfach vermischten sich sehr profane Machterwägungen mit religiösen Motiven oder Vorwänden, um gewaltsam gegen andere Territorien, Bevölkerungsgruppen und Städte vorzugehen. Erinnert sei nur an die Glaubenskriege in Deutschland unmittelbar nach der Reformation, die zunächst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 endeten – aber eben nicht auf Dauer. Schon nach dem Konzil von Trient, das 1563 endete, gingen die Auseinandersetzungen weiter, führten zum Abfall der protestantischen Niederlande vom katholischen Spanien, den Hugenottenkriegen in Frankreich und schließlich zu der großen Auseinandersetzung der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die wir bis heute den Dreißigjährigen Krieg nennen.
Auf die vorsichtige Frage, ob denn diese Art von Gewalt unter Christen wohl im Sinne Jesu gewesen wäre, wurde nur selten eine Antwort gesucht. Vielmehr diente die Darstellung in der Offenbarung des Johannes, dass es ein neues Jerusalem erst nach dem erfolgreichen Kampf gegen den Teufel geben werde, teilweise auch als Rechtfertigung von Gewalt gegen diejenigen, die man als Anhänger oder Unterstützer des Teufels zu erkennen meinte. Diese Rechtfertigung vermischte sich mit der Überzeugung, man kämpfe jeweils für die gerechte und richtige Sache und dafür seien im Grunde alle Mittel gerechtfertigt. Natürlich fanden sich zur Begründung ausreichend theologische und juristische Erklärungen. Denn damals ließen sich die Mächtigen – wie heute – von den Wissenschaftlern ihrer Zeit intensiv beraten.
Das irdische Leben, geprägt von Kriegen, Hungersnöten, Seuchen und Armut, hatte für die einfachen Menschen – auch bei uns am Niederrhein – wenig Verheißungsvolles. Bestenfalls konnte die Aussicht auf ein besseres Leben nach dem Tod als Verheißung gelten. Viele Gebete, Glaubensrituale und Traditionen zeugen davon. Auch die Entstehung von Institutionen der christlichen caritas – der Hilfe für Arme, Kranke und Alte – war zugleich der Notwendigkeit vor Ort geschuldet wie der Bemühung um ein eigenes christliches Leben, das zu eigener Erlösung nach dem Tod beitragen sollte. Wer mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt erwirtschaften konnte, mit seiner Familie ohne Hunger, Seuchen und Not leben konnte, hatte es auf dem Lande schon gut angetroffen. Einen gewissen Wohlstand gab es an den Höfen, aber auch in manchen größeren Städten. Aber auch nur so lange, wie Frieden herrschte. Insofern fielen die Perspektiven der Herrschenden und der einfachen Bevölkerung wie auch ihre Sorgen zumeist sehr weit auseinander.
Damit sind wir historisch in der Zeit vor der Geburt des Gerhard Vynhoven angekommen, der Ostern 1596 auf der Eicker Heide, nur wenige Kilometer von hier entfernt, das Licht der Welt erblickte. Dort bewirtschafteten seine Eltern einen Hof, den Vinhof.
Die Geschichte des Niederrheins ist im 16. und 17. Jahrhundert leider eine Aneinanderreihung kriegerischer Auseinandersetzungen. Es ging vielfach um Religion, immer aber auch um die Machtverhältnisse im Reich. Und da war nicht zuletzt der jeweilige Kölner Kurfürst ein wichtiger Faktor. So wirkte sich etwa der Konfessionswechsel des Kölner Kurfürsten und Erzbischofs Gebhard Truchsess von Waldburg 1582 unmittelbar auf das gesamte Rheinland aus. Denn er beabsichtigte, sein kirchliches Territorium in ein weltliches Territorium umzuwandeln und den Untertanen das Bekenntnis freizustellen. Hätte Gebhard von Waldburg mit seinem Vorhaben Erfolg gehabt, dann wäre die Mehrzahl der Kurfürsten, die den Kaiser wählten, von diesem Zeitpunkt an evangelisch gewesen.
Sein Vorgehen hatte letztlich keinen Erfolg, allerdings erst nach jahrelangen Kriegen, vielen Zerstörungen von Dörfern und Siedlungen. Religionspolitik wirkte sich im Deutschen Reich – wie so häufig – aber nicht nur in Machtverschiebungen zwischen Territorien und Landesherrn aus, sondern ganz unmittelbar auch auf die von den Kriegszügen und Konflikten betroffene Bevölkerung.
Das zeigte sich auch sehr deutlich, als sich um 1602 der Konflikt internationalisierte, indem niederländische und spanische Truppen eingriffen (Leo Peters, Der Niederrhein. S.54/55 schildert die Hintergründe). Der Niederrhein wurde für mehrere Jahre zum Nebenkriegsschauplatz des niederländischen Befreiungskampfes und litt unter den Folgen von Besatzung, marodierenden Soldatengruppen, Brandschatzungen, Missernten und anderen Kriegsfolgen teilweise noch stärker als später im Dreißigjährigen Krieg.
Um sich die brisante Ausgangslage etwas genauer vorstellen zu können, in der sich die Menschen hier am mittleren Niederrhein befanden, ist ein Blick auf die politische Landkarte dieser Zeit hilfreich. Neersen war damals über Jahrhunderte hinweg ein Grenzort im Nordwesten des Kurfürstentums Köln. Entlang der Niers verlief nach Norden bis hinter Grefrath eine Landesgrenze. Oedt und Kempen gehörte ebenfalls zu Köln. Viersen und Grefrath auf dem westlichen Ufer der Niers gehörten dagegen zum Herzogtum Geldern, das später in diesem Teil preußisch wurde. Dazwischen lag ein weiteres weltliches Territorium: Süchteln wie Gladbach und die westlicher gelegenen Orte Dülken, Kaldenkirchen und Brüggen bildeten die nördliche Grenze des Herzogtums Jülich gegenüber Geldern. Alleine diese Zersplitterung von Herrschaften und die vielen Grenzen auf wenigen Kilometern Abstand führten dazu, dass bei jeder Konfliktsituation unter den Landesherren sofort Kriegsgefahr und unklare Koalitionsbildungen drohten. Der Niederrhein war damit Spielball, aber auch begehrtes Objekt von Machtpolitik im Nordwesten des Reiches.
Wie sehr Krieg und Frieden, aber auch herrschaftliche Zuordnungen, in dieser Zeit an Zufällen oder Einzelereignissen hingen, ist am Schicksal des Herzogtums Kleve-Jülich-Berg-Mark und Ravensberg ablesbar. Der geistig minderbemittelte letzte Herzog, Johann Wilhelm, war 1609 gestorben. Mit ihm starb auch die Dynastie aus. Von Neersen aus gesehen unmittelbar jenseits der Niers entstand damit ein Machtvakuum, das nach einer wenig stabilen Zwischenregelung 1614 mit dem Vertrag von Xanten endete. Zuvor waren kurpfälzische Truppen unter anderem marodierend durch Kempen, Neersen, Willich, Kaarst und Neuss in Richtung Jülich gezogen. Die Neutralität des Kurfürsten schützte die Orte und die Bevölkerung nicht.
Jülich-Berg mit der Residenzstadt Düsseldorf und das nun zu Brandenburg gehörende Kleve-Mark waren die neuen Territorien, die das Kurfürstentum Köln weitgehend umschlossen. Doch schon damals fehlte nicht viel, um den Niederrhein mit einem neuen Krieg zu überziehen.
Das wird Gerhard Vynhoven als junger Mann mit seiner Familie miterlebt haben, bevor er zum Studium nach Douai in Flandern ging.
Es wäre verlockend, nunmehr ausführlicher den Lebensweg Gerhard Vynhovens nachzuzeichnen, denn er weist neben eher typischen Stationen eines katholischen Geistlichen in der Zeit der Gegenreformation auch einige bemerkenswerte Besonderheiten auf. Dies würde aber zum einen den Rahmen sprengen. Andererseits ist die Darstellung seines Leben im Rahmen eines anderen Vortrages dieses Vynhoven-Jahres bereits in hervorragender Weise erfolgt. Umfassende schriftliche Darstellungen (u.a. Deilmann/Vander, Gerhard Vynhoven und seine Stiftung Klein-Jerusalem (1951) und Wolfgang Boochs, Gerhard Vynhoven 2018), seien außerdem zur Vertiefung empfohlen.
Aus den Quellen wissen wir, dass Gerhard Vynhoven schon 1620 wieder in seiner Heimat war, zunächst als Vikar, ab 1621 dann als Priester und zeitweise zusätzlich als Lehrer, da der örtliche Lehrer zum Calvinismus übergetreten war. Die konfessionelle Spaltung ging teilweise mitten durch die Orte, Konfessionswechsel von Landesherrn oder Geistlichen waren nicht selten. Dies verschärfte sich weiter mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Mai 1618. Dieser wurde in Böhmen ausgelöst durch den Aufstand der böhmischen Stände gegen Ferdinand II. von Habsburg und den berühmten „Prager Fenstersturz“, den die katholischen königlichen Statthalter nicht überlebten. Die Stände wählten den Kurfürsten Friedrich von der Pfalz zum böhmischen König und lösten damit das militärische Einschreiten kaiserlicher Truppen aus.
Doch dieser Konflikt hatte zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Niederrhein.
Wenden wir uns daher zunächst dem vielleicht einschneidendsten Ereignis im Leben des Gerhard Vynhoven zu, dem wir vermutlich den Wallfahrtsort Klein-Jerusalem verdanken.
Die Rede ist von der Reise nach Palästina, seinem dreijährigen Aufenthalt vor Ort in Begleitung des damals noch minderjährigen Adrian Wilhelm Freiherr von Virmond, Schlossherr von Neersen. Eine solche Reise war unter den damaligen Bedingungen ein aufwändiges, nicht ungefährliches Unterfangen. Warum machten sich junge Menschen (auch Gerhard war zu Beginn der Reise noch keine 30 Jahre alt) auf einen solch beschwerlichen Weg? Was faszinierte sie, wonach suchten sie? Anders als bei den ersten Kreuzzügen dürfte es weniger Abenteuerlust gewesen sein als vielmehr die ehrliche Suche nach den Wurzeln des eigenen Glaubens, nach den heiligen Stätten.
Der christliche Glauben war für diese Menschen nicht nur in der konfessionellen Abgrenzung zwischen Katholiken und Protestanten ein prägender Teil ihres Alltags. Die Verwurzelung in Traditionen, aber auch der Versuch, die Welt und Umwelt in ihren Ursachen und Wirkungen zu begreifen, hatten eine immense Prägekraft. Gottes Wirken stellte man sich nicht nur sehr persönlich vor – gerade auch bezogen auf die eigene Gesundheit, auf gute Ernten, Frieden und Glück. Es bestand auch die ausgeprägte Bereitschaft, dafür Opfer auf sich zu nehmen, sei es in Form von Fasten oder Verzicht, Pilgerreisen oder Wallfahrten, aber auch Spenden an geistliche Institutionen.
So dürfte der dreijährige Aufenthalt Gerhard Vynhovens im Heiligen Land durchaus unterschiedliche Motivationen gehabt haben. Sein Engagement vor Ort ist uns auch überliefert. So war er den Quellen nach Kustos, Kanzler und Ritter des Heiligen Grabes zu Jerusalem. Zudem sei er wohl in den Orden des heiligen Georg aufgenommen worden und dessen „Goldener Ritter“ geworden (so Deilmann/Vander, S.12). Dieser Orden hatte sich wie vergleichbare Organisationen die Bekehrung zum Christentum als Aufgabe gestellt.
Hier ist interessant, noch einmal eine Brücke zu Gerhard Vynhovens Glauben und Grundüberzeugungen aufzuzeigen. Denn die spätere Stiftung der Kapelle Klein-Jerusalem, der immense finanzielle Aufwand, den er dafür betrieben hat, das erhebliche zeitliche Engagement, die Bereitschaft, sich bei vielfältigen Rückschlägen und Behinderungen nicht von seinem Vorhaben einer Wallfahrtsstätte am heutigen Ort abbringen zu lassen, das bedarf einer festen Grundüberzeugung. Das macht man nicht, wenn die Wurzeln von Glauben und der Antrieb der Glaubensvermittlung nicht sehr stark sind.
Der Überlieferung nach war Gerhard Vynhoven nicht nur ein guter und fleißiger Prediger und Priester, sondern schon in jungen Jahren ein engagierter Lehrer. Jemand, der seinen Mitmenschen etwas vermitteln wollte. Und jemand, der auch bereit war, lange Wege zu gehen, um ans Ziel zu kommen: auch eine Reise nach Palästina war in damaliger Zeit ja alles andere als eine Urlaubsreise für ein paar Wochen. Ganz im Gegenteil. Die Reisenden waren viele Wochen unterwegs, teilweise unter widrigen Umständen, bis sie am östlichsten Ufer des Mittelmeeres ankamen. Vynhovens Überzeugung, seinen Mitmenschen in der Heimat am Niederrhein eine Vorstellung vom irdischen Jerusalem verschaffen zu müssen, damit sie sich die wichtigsten historischen und religiösen Stätten des christlichen Glaubens wenigstens vorstellen konnten, beschäftigte ihn seit seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land.
Bevor er sich dem aber auch mit dem Bauprojekt widmete, war Vynhoven nach seiner Rückkehr an den Niederrhein zunächst als Geistlicher an verschiedenen Orten tätig, hauptsächlich aber als Pfarrer in Osterath. Als die Kriegsereignisse des Dreißigjährigen Krieges, die den Niederrhein zunächst viele Jahre weitgehend verschont hatten, auch in unserer Region zu schwersten Schlachten, großen Verwüstungen und Seuchen führten, schloss sich Vynhoven im Jahr 1642 dem berühmten kaiserlichen General Jan van Werth als Hofkaplan und Feldprediger an. Jan van Werth stammte aus Büttgen. Bis zum Kriegsende und dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück im Jahre 1648 gehörte Vynhoven nun auf allen Feldzügen zum engsten Umfeld des Generals und war geistlicher Betreuer der Soldaten.
Was sich in einer Erzählung zunächst ganz selbstverständlich anhört, ist es aber bei näherer Betrachtung eher nicht. Da verlässt ein Geistlicher, der sich über viele Jahre der eigenen Pfarrgemeinde gewidmet hat, nach schrecklichen Verwüstungen der eigenen Heimat das Zuhause und geht mit in den Krieg, einen Krieg, in dem unterschiedliche Gottesvorstellungen zwischen Katholiken und Protestanten und ein unterschiedliches Verständnis von Sakramenten Auslöser und jahrzehntelange Triebfeder gewesen sind. Das ist – wie der bekannte Publizist Herfried Münkler (Der Dreißigjährige Krieg, 2017, S.19/20) es zu Recht ausgedrückt hat – für uns nicht mehr nachvollziehbar. „Die große Distanz zum Dreißigjährigen Krieg als politisch-kulturellen Identitätsmarker der Deutschen resultiert nicht zuletzt daraus, dass wir gegenüber religiösen Kontroversen gleichgültig geworden sind. Wo man Derartiges beobachtet, wie in den Kriegen, Bürgerkriegen und terroristischen Attacken der islamischen Welt, reagiert man mit Abscheu und Unverständnis – um anschließend mit Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen, dass es solche Kriege auch in unserer eigenen Geschichte gegeben hat.“
Wer aber aus der Perspektive des Jahres 1642 auf die Geschehnisse schaut, dem zeigt sich eine ganz andere Welt. Seit mehr als hundert Jahren drehte sich in der „deutschen“ Politik fast alles um die Reformation und ihre Folgen. Was für Martin Luther eine Frage der Bereinigung des christlichen Glaubens von Übertreibungen, Fehlentwicklungen und der Versuch einer Rückbesinnung auf die Wurzeln des Christentums war, war für die Amtskirche nicht nur der Angriff auf die Deutungshoheit des Glaubens. Es war zugleich die Infragestellung ihrer immensen politischen und gesellschaftlichen Macht. Umgekehrt war die Übernahme der reformatorischen Glaubensideen für viele weltliche Herrscher zugleich verbunden mit der Ambition auf mehr Einfluss, auf Ausbau ihrer Territorien zulasten der geistlichen Territorien im Reich. Damit ging es in gleicher Weise nicht nur um die wahre Auslegung des christlichen Glaubens, sondern auch um die Durchsetzung dieser Auslegung mit den Mitteln von Diplomatie und Macht, notfalls mit Gewalt.
Am Beispiel des Truchsessischen Krieges, der das Kurfürstentum Köln und seine Umgebung für mehrere Jahre in größte Turbulenzen gebracht hatte, haben wir dies bereits eben kurz beleuchtet.
Mit dem Blick auf die Lebensgeschichte Gerhard Vynhovens aus dem Jahr 1642 stellte sich die Glaubenskontroverse als sehr konkreter Teil seines eigenen Lebens dar. Er hatte ja schon als junger Mann einen zum Protestantismus übergetretenen Lehrer vertreten, war mit seinem katholischen Grafen im Heiligen Land gewesen, hatte danach als katholischer Pfarrer erlebt, dass es überall am Niederrhein immer wieder Konfessionswechsel gegeben hatte bei den Landesherren, ob aus Glaubensgründen oder aus Machtüberlegungen. Schließlich war dann der große Glaubenskrieg auch ab 1635 mit Gewalt an den Niederrhein gekommen. Und nun, nachdem so viel zerstört worden war von „feindlichen“ Truppen, die seine Heimat durchzogen hatten, stand er vor der Frage, wie es weiter gehen könnte. Jan van Werth hatte als kaiserlicher Feldherr eine Reihe von Orten, darunter auch Neersen, von den hessischen Truppen zurückgewonnen und schickte sich an, mit ihm auf katholisch-kaiserlicher Seite in den Krieg zu ziehen.
Wenn man es allerdings in der letzten Phase des Dreißigjährigen Krieges genauer betrachtet, dann hatte spätestens ab 1635 die Glaubensfrage doch ihre Bedeutung für die Entwicklung des Krieges weitgehend verloren. Denn zu diesem Zeitpunkt trat das katholische Frankreich an der Seite des protestantischen Schweden in den Krieg gegen das katholische habsburgische Kaiserhaus ein. Spätestens jetzt wurde auf deutschem Boden ein europäischer Krieg um die Vorherrschaft in Europa ausgetragen, in dem Frankreich alles daran setzte, die Habsburger zu schwächen.
Nach 1642 verlagerte sich das Kriegsgeschehen bis kurz vor Kriegsende wieder vom Niederrhein weg und kehrte erst 1648 in Form von französischen Truppen zurück, als kaiserliche Truppen Neuss belagerten.
Dreißig Jahre nach dem Prager Fenstersturz endete dieser Krieg 1648 endlich mit den Friedenschlüssen von Münster und Osnabrück.
Im Rathaus von Münster befindet sich der eindrucksvolle Friedenssaal. Wenn man dort steht, atmet man die Bedeutung dieses Saales von der ersten Sekunde an ein. Der Raum hat seine ganz eigene Erhabenheit, schon aus der Gestaltung erschließt sich, dass hier Weltgeschichte geschrieben worden ist. Und das ist in der Tat so gewesen, als nach monatelangen Verhandlungen ein Ende gekommen ist an einen Krieg, der Deutschland in weiten Landstrichen völlig zerstört, teilweise entvölkert und in einem Zustand zurückgelassen hat, von dem sich viele Regionen im gesamten 17. Jahrhundert nicht mehr erholt haben. In ganzen Landstrichen gab es keine funktionierende Landwirtschaft mehr, es kam zu weiteren Seuchen und Hungersnöten. Umso dringender der Ruf nach einem dauerhaften, einem „ewigen“ Frieden. Nicht nach einem Frieden, auf den nach dem nächsten Thronwechsel eines regionalen Fürsten wieder ein jahrelanger regionaler Krieg drohte, vor allem wenn es um den Ausbau regionaler territorialer Macht anlässlich von Erbstreitigkeiten ging.
Darauf bezogen stellt Münster 1648 tatsächlich einen Epochenwechsel dar. Denn der Friedensschluss legt nicht nur fest, wie irdischer Frieden unter Menschen und vor allem Herrschern zustande kommt. Er regelt auch erstmals, wann es ein Recht auf Selbstverteidigung, auch auf die Austragung eines Krieges (ius ad bellum) gibt. Es entsteht so etwas wie ein Kriegsvölkerrecht, also ein Recht, das regelt, an welche Regeln sich Kriegsparteien zu halten haben (ius in bello). Im Kern ist 1648 damit die Grundlage des modernen Völkerrechts gelegt worden. Aus den katastrophalen Erfahrungen der Zeitgenossen wurde die Erkenntnis umgesetzt, dass es jedenfalls nicht so weiter gehen könne.
In gewissem Umfang darf man das wohl vergleichen mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Verabschiedung der UN-Charta in der Folge und aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. 1648 wie nach 1945 waren es die tiefgreifenden gemeinsamen Erfahrungen der ehemaligen Kriegsparteien, die die Erkenntnis brachten, dass neue Regeln erforderlich waren, um das Zusammenleben von Völkern und Staaten auf eine friedlichere und geordnetere Grundlage zu stellen. Man könnte auch sagen: es handelt sich um den Versuch, in dem Menschen möglichen Maße die Voraussetzung für Frieden auf Erden zu schaffen.
Wechseln wir noch einmal die Perspektive und wenden wir uns Gerhard Vynhoven zu, der nach dem Ende des Krieges offenbar einen zweiten Aufenthalt in Palästina anstrebte. Dazu reiste er 1650 nach Rom und erhielt im Februar 1651 die Erlaubnis von Papst Innozenz X. für eine solche Pilgerreise. Ob er diese Reise wirklich angetreten hat oder in Rom verblieb, darüber sind die Quellen recht schweigsam. Sicher erscheint aber, dass er nach dem Tode Jan van Werths Ende 1652 an den Niederrhein zurückgekehrt ist. Die Pläne zur Errichtung einer Palästina-Stiftung und der Stiftung einer Kapelle wurden dann offenbar 1654 aktenkundig, als ihm ein entsprechendes Grundstück in der Eicker Heide für diesen Zweck überlassen wurde. Vynhovens Anliegen, hier eine verkleinerte, aber möglichst den historischen Stätten in Jerusalem, Bethlehem und Nazareth angenäherte Nachbildung zu errichten, ist bis heute sichtbar – und auch bestens begreifbar.
Klein-Jerusalem, wie wir es heute kennen, ist trotz mancher Veränderungen dem Konzept Vynhovens folgend eine Visualisierung, eine Verbildlichung der Heiligen Stätten.
Gerhard Vynhoven wusste, dass die wenigsten seiner Zeitgenossen sich selbst auf den Weg ins Heilige Land machen konnten. Um aber das Wissen um die Orte möglichst begreifbar zu machen, wollte er sie nachbauen, erlebbar machen. Glauben lebt für ihn vom Glaubenserlebnis – im Unterschied zum protestantischen verbum solum (der Konzentration auf die Texte der Bibel und ihre Auslegung). Diese Kirche sollte nicht nur für die Gläubigen in der näheren Umgebung ein Anziehungspunkt sein, sondern auch weit darüber hinaus, ein Pilgerort.
Als Gerhard Vynhoven 1674 verstarb, also vor genau 350 Jahren, da hatte er einen kleinen Wallfahrtsort geschaffen, in dem er seine eigenen Lebenserfahrungen – vor allem seine Zeit im Heiligen Land, aber auch die priesterlichen Erfahrungen – in einer beeindruckenden Weise umgesetzt hat. Klein-Jerusalem ist ein Ort, der nicht nur seinen Zeitgenossen einen Eindruck vom historischen Jerusalem geben sollte. Vynhoven hat dies auch mit der Glaubensverheißung des himmlischen Jerusalems verbunden. Einen Ort des Friedens, der Freude, der Einheit mit Gott. Einen Ort, an dem es keine Not, keine Seuchen, keinen Hunger und keine Schmerzen mehr gibt. An dem die Menschen von den Sorgen des irdischen Alltags befreit sind.
So ist Klein-Jerusalem, errichtet nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, bis heute ein Ort des Glaubens, dass Kriege, Streit und Not nicht das letzte Wort haben. Auch wenn wir in diesen Tagen, in denen in Europa und an vielen anderen Orten der Welt wieder brutale Kriege geführt werden, wieder einmal daran zweifeln, ob es in unserer Welt jemals die Einsicht gibt, dass der Krieg nicht die richtige Antwort auf Konflikte vielfältiger Art ist. Egal, ob sie mit unterschiedlichem Glauben, unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Ideologie oder was auch immer begründet werden.
So lebt heute, im Jahr 2024, in uns weiter die Hoffnung auf Frieden auf Erden.
So dürfen wir uns aber mit Gerhard Vynhoven auch einlassen auf die Suche nach dem himmlischen Jerusalem.
Herzlichen Dank.