Mein Redebeitrag am 28. Januar 2021 finden Sie im Wortlaut hier:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört – leider – zur AfD, dass sie Geschichte so interpretiert, wie es in ihr Weltbild passt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie die Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis heute als Grundlage der Bundesrepublik Deutschland betrachtet.
Doch wer sich ernsthaft mit der Geschichte beschäftigt, der muss ehrlicherweise zugeben, dass die so gepriesene Gründung des Bismarckreiches nicht das Ergebnis eines mehrheitlich gewollten nationalen und demokratischen Prozesses war.
Der Januar 1871 ist das Datum eines obrigkeitsstaatlichen Beschlusses der damals herrschenden Fürsten. Sie gründeten ein Reich, in dem einerseits der Wohlstand schnell wuchs, in dem auch Bildung sich schnell entwickelte, in dem aber andererseits – ich werde darauf eingehen – Minderheiten Repressionen und Anfeindungen ausgesetzt waren, und das über Jahre. Das demokratische Defizit der Reichsgründung führte damit zum wilhelminischen Machtstaat.
Das alles kann man, wie Sie das tun, beschönigend als Ergebnis von Realpolitik bezeichnen, aber mit unserem Verständnis vom freiheitlich-demokratischem Rechtsstaat hat 1871 nicht viel zu tun.
Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist für jeden Staat wichtig. Sinngemäß hat der frühere Bundespräsident Roman Herzog einmal dazu formuliert: Wer nicht weiß, wo er herkommt, der muss sich nicht wundern, wo er auskommt.
Oder wie der große Historiker Golo Mann bemerkte: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen.“
Stattdessen interpretieren Sie in Ihrem Antrag die Geschichte nach Ihren eigenen politischen Vorstellungen, quasi als Legitimation Ihrer eigenen heutigen Politik. Aber viel wichtiger wäre es, zu überlegen, warum ein Staat das geworden ist, was er heute ist, und wie er heute ist. Früher hätte man das die Frage nach der Staatsräson genannt.
Daher beschäftigt uns in Europa auch die Suche danach, was eine Nation ausmacht, seit Jahrhunderten. Es ist versucht worden, die Nation als Volksnation zu beschreiben, als eine ethnische Abstammungsgemeinschaft. Daneben tritt die Vorstellung als Kulturnation, die sich über ihre Sprache, ihre Tradition, ihre Geschichte definiert. Die Staatsnation als dritte Deutung beruht dagegen auf dem gemeinsamen politischen Willen und den Werten, denen sich alle Menschen und Bürger in diesem Staat verpflichtet fühlen.
Je nachdem, welchem Staatsverständnis, welchem Nationenverständnis man folgt, ergeben sich sehr unterschiedliche politische, staatsrechtliche und auch praktische Folgerungen. Das wird am Beispiel Deutschlands deutlich.
Von der deutschen Nation spricht erstmals das Landrecht Friedrichs III. Ende des 15. Jahrhunderts. Das damals sogenannte „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ war aber kein Nationalstaat im modernen Sinne. Der Anspruch, Rechtsnachfolger des Römischen Reiches zu sein, verband sich mit dem Gedanken einer Kulturnation.
Die räumlichen Grenzen veränderten sich über die Jahrhunderte ebenso wie die Zusammensetzung der Bevölkerung. Selbst die deutsche Sprache kann im 15. und 16. Jahrhundert nicht als verbindendes Element herhalten. Wenn man dann in der Folgezeit von Deutschland spricht, dann auch bis ins 19. Jahrhundert eher als Kulturnation in der Mitte Europas, nach dem Aufstieg Preußens geprägt durch dieses und durch Österreich.
Tatsächlich hat dieser deutsch geprägte Kulturraum viel zu bieten: die Literatur von Schiller und Goethe oder Lessing, die Musik von Bach über Haydn und Mozart bis zu Beethoven. Im letzten Jahr erst haben wir den 250. Geburtstag Beethovens gefeiert. Beethoven war mehr als ein genialer Komponist, er war ein überzeugter Europäer und Aufklärer.
Der Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts war eine Epoche mit absolut herrschenden Monarchen – nicht unbedingt geknüpft an die Idee des Nationalstaates, nicht nur in Deutschland. Dynastien prägten die Szenerie in Europa, ebenso wie die vielen Kleinstaaten auf deutschem Gebiet – auch nach dem Wiener Kongress von 1815.
Besonders prägend für Europa und Deutschland war zweifellos der Frieden von Münster und Osnabrück 1648. Das Trauma eines 30-jährigen Krieges, der Deutschland und große Teile Europas in weiten Teilen in Schutt und Asche gelegt hatte, brachte die Fürsten Europas zu einem bis dahin nicht gekannten Friedensschluss zusammen. Roman Herzog hat dies 1998 aus Anlass des 350. Jahrestages des Friedens ein welthistorisches Ereignis in der damals westfälischen Provinz genannt.
Der Friedensschluss von Münster schuf zugleich die Grundlagen des künftigen Europas. Pax optima rerum – der Frieden ist das höchste aller Güter – ist noch heute im historischen Friedenssaal des Münsteraner Rathauses zu lesen, bei uns in Nordrhein-Westfalen. Damit war und ist die Erkenntnis verbunden: Weder Frieden noch Wahrheit können im Krieg gefunden werden.
Mit Blick auf die Weltkriege des 20. Jahrhunderts wie auch auf die vielen kriegerischen Konflikte unserer Zeit ist es eine bis heute gültige, damals sehr weitreichende und neue Erkenntnis, dass das Zusammenleben von Völkern und Staaten auf diesem Globus gerade in Zeiten der Globalisierung nur im friedlichen Miteinander und im Interessenausgleich gelingt und ansonsten so gut wie immer den Keim des nächsten Konfliktes in die Erde legt. Diese Erkenntnis würde man sich bei manchem heute weltweit wünschen.
Der Frieden von Münster und Osnabrück begründete das moderne Völkerrecht. Er schuf eine Ordnung des Miteinanders zwischen Fürsten und Staaten. Andererseits – das muss man auch sagen, auch da war Geschichte offen – ist die Festschreibung des Existenzrechts der vielen Kleinstaaten auf deutschem Boden sicherlich eine der Wurzeln eines Gefühls, gegenüber anderen Nationen in Europa benachteiligt zu sein. Das hat etwa in Italien zu dem Gefühl geführt, eine „verspätete Nation“ zu sein.
Darüber ist unter den Historikern seit dem 19. Jahrhundert viel diskutiert worden, vor allem in einer Zeit, als sich in Europa der Nationalstaat als wünschenswerte Einheit von Staatlichkeit immer stärker etablierte.
Für uns heute in Deutschland ist das zweifellos ein Punkt, über dieses Gefühl noch einmal nachzudenken. Woran macht sich das fest, an welchen Daten, an welchen Ereignissen? – Da fallen einem die napoleonischen Befreiungskriege bis 1813 ebenso ein wie das Wartburgfest 1817, das Hambacher Fest des Jahres 1832, die Märzrevolution von 1848 und auch die Paulskirchenverfassung.
Die Fürstenstaaten aber behielten zu dieser Zeit die Oberhand. Ähnliche Ereignisse des Gefühls, man wolle frei leben – ein anderes Staatsverständnis, ein bürgerschaftlicheres Leben –, gab es auch parallel in der französischen Julirevolution von 1830, im polnischen Novemberaufstand des gleichen Jahres oder in der belgischen Revolution von 1830/31.
Dazu passt dann auch Hoffmann von Fallersleben, der 1841 von Einigkeit, Recht und Freiheit geschrieben hat. Vor diesem Hintergrund ist jetzt die Einordnung der Reichsgründung vom 18. Januar 1871 – vor 150 Jahren – möglich. Der Zusammenschluss des von Preußen dominierten Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten trat formal am 1. Januar 1871 in Kraft. Als Tag der Reichsgründung wurde allerdings der 18. Januar festgelegt, der Tag, an dem der preußische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde. Im Spiegelsaal von Versailles präsentierte sich das neue Deutsche Reich als Großmacht – genau 170 Jahre nach der Gründung des preußischen Königreiches 1701 – sehr bewusst.
Man muss gar nicht so genau hinschauen, um zu sehen: Diese Reichsgründung war vor allem als Machtdemonstration nach außen gedacht. Es ging gar nicht um demokratische Freiheit, Bürgerrechte und Bürgertum. Man sang eben als Nationalhymne nicht „Einigkeit und Recht und Freiheit“, sondern man sang „Heil dir im Siegerkranz“. So weit zu den Traditionen und Brüchen in der Geschichte, Herr Kollege Seifen.
Die Gründung einer auf Monarchie, Militär und Bürokratie aufgebauten deutschen Staatseinheit schuf einen starken Nationalstaat in der Mitte Europas. Aber er ließ andererseits große Teile der Bevölkerung zurück. Ich nenne als Beispiele nur den Kulturkampf mit dem katholischen Bevölkerungsteil oder das Sozialistengesetz. Die so ausgegrenzten Gruppen standen übrigens mit liberalen Kräften gemeinsam 1917 bezeichnenderweise an der Wiege der Weimarer Republik und damit der ersten deutschen Demokratie.
Die Verklärung der Nation im überbordenden Nationalismus in Europa, aber auch der Gedanke der Rache für erlittenes Unrecht war der Keim vieler verheerender Kriege auf dem Kontinent. Dafür haben Millionen Menschen einen hohen Preis bezahlt.
Daraus entstanden 1945 neue Antworten weitblickender Menschen: die Gründung der Vereinten Nationen und bei uns in Europa die europäische Aussöhnung und Einigung. Ihr gemeinsames geistiges Fundament ist das Bild des Menschen aus der griechischen Antike und der Humanismus, das Christentum und die europäische Aufklärung, damit die Überzeugung von der Würde des Menschen und von seiner individuellen Freiheit. Es ist die Staatsidee der Gemeinschaft von Menschen, nicht des Staates als Selbstzweck, und der Notwendigkeit einer Ordnung des Miteinanders, aber nicht eines Rückzugs in eine idealistisch begründete Volksgemeinschaft. Es ist der Gedanke der Subsidiarität und der Solidarität des Miteinanders von Freiheit und Verantwortung und des Bekenntnisses zu gemeinsamen Grundwerten wie dem Grundgesetz, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem modernen Völkerrecht. Das ist auch die Brücke zum Karlspreis des Jahres 1950, gestiftet in Aachen, auch bei uns in Nordrhein-Westfalen.
Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 ist zweifellos eine bedeutende Station der deutschen Geschichte. Sie hat die jahrhundertelange Kleinstaaterei überwunden, wirtschaftliche Entwicklungen in der Industrialisierung stark begünstigt, wie übrigens auch die Einigung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg diese Entwicklungen sehr stark begünstigt hat. Sie hat einen einheitlichen Rechtsrahmen geschaffen und durch die Stärkung von Bildung und Forschung und einer weitgehend einheitlichen Währung auch bessere Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Wohlstand. Das alles gilt es zu würdigen und einzuordnen, aber auch nicht mehr.
Dem vorliegenden Antrag, Herr Kollege Seifen, liegt jedoch ein Geschichtsverständnis zugrunde, von dem ich nicht gedacht hätte, dass man dieses heute noch so vertreten kann. Sie haben in dem Antrag formuliert, der Landtag solle beschließen, dass die – Zitat –Vereinigungskriege von 1864, 1866 und 1870 den Gegnern einer deutschen Einheit geschuldet seien, die den Deutschen ihr Selbstbestimmungsrecht nicht zubilligen wollten.
Fest steht: Die Deutschen sind 1871 nicht gefragt worden, ob sie lieber Preußen oder Österreich als führende Macht in einem deutschen Nationalstaat hätten – oder vielleicht beide – oder gar keinen solchen Nationalstaat. Übrigens ist eine einzige Argumentation, wie Sie sie hier schriftlich vorgelegt haben, angewendet auf das 21. Jahrhundert, schon sehr, sehr interessant. Denn nach dieser abwegigen Theorie wäre sogar die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 ein legitimer Versuch, diese Halbinsel wieder an Russland anzugliedern, denn Russland behauptet ja, dass die Bevölkerung dort ihr Selbstbestimmungsrecht gegen die Ukraine ausüben wolle. Und zur Ukraine gehörte die Krim übrigens sei 1954 aufgrund einer Neugliederung der Sowjetunion durch Chruschtschow. Vielleicht sollten wir das Ihren Kollegen mal vor Augen führen, die ab und zu in russischer Begleitung auf die Krim reisen.
Der vorliegende Antrag versucht sich als Beitrag einer Nationalgeschichte im Stil des späten 19. Jahrhunderts. Das wirkt nicht nur seltsam anachronistisch; ihm misslingt auch die Einordnung der Reichsgründung von 1871 in die deutsche und europäische Geschichte. Und dass Bismarck im Antrag der AfD mit der Behauptung zitiert wird, dass Eisen und Blut die großen Fragen der Zeit entscheiden, das spricht Bände. Die Sprache bringt es an den Tag, denn sie ist der Spiegel der Gedanken.
Dass Sie mit Ihrem Antrag wohl am liebsten zur Reichsflagge Schwarz-Weiß-Rot zurückkehren möchten, legt Ihre Geisteshaltung auch hinreichend offen. Ich empfehle Ihnen vor dem Abfassen solcher Anträge die intensive Lektüre der Reden unseres früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Er war ein kluger Konservativer, wie er als Träger des Karlspreises auf die Frage „Deutschland, wo liegt es?“ ganz sicher geantwortet hätte: „Mitten in Europa.“ – Herzlichen Dank.
Die vollständige Rede finden Sie auch hier im Anhang: TOP3 -28.01.2021 -Dr._Marcus_Optendrenk
Den Redebeitrag im Video finden Sie auch auf meiner Facebookseite.