Meine Rede zum TOP 3 im Plenum des Landtags (23.05.2019):
Wir leben in bewegten Zeiten.
Vieles, was wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten als sicher angesehen haben, wird in Frage gestellt. Nicht wenigen gehen die Orientierungspunkte verloren. Vertraute Institutionen verlieren an Bindungskraft. Das fast unendliche Angebot an Informationen, an Gelegenheiten zu konsumieren, seine Freizeit zu gestalten, die globale Gleichzeitigkeit von Ereignissen und der Information darüber: alles das schafft Freiheiten und Chancen. Es macht uns aber auch unsicher. Wir fühlen uns überflutet und überfordert. Wir suchen nach einem Anker. Es gibt einen solchen Anker für unsere Gesellschaft: das Grundgesetz. Die heutige Debatte über 70 Jahre Grundgesetz ist eine gute Gelegenheit, diese Bedeutung unserer Verfassung als Anker von Staat und Gesellschaft zu verdeutlichen. Dieses Grundgesetz ist selbst in einer Zeit der Unsicherheit und Unklarheit entstanden. Die Erarbeitung und Verabschiedung dieses Grundgesetzes war eines wahrlich nicht: selbstverständlich. Aber es hat in sieben Jahrzehnten ein festes Fundament gebildet. Es kann uns auch heute helfen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Das ist die Funktion einer guten Verfassung. Sie stellt fest und regelt, was das Fundament ist, auf dem unser Gemeinwesen aufbaut. Sie ermöglicht Entwicklung, bleibt aber im Kern unverändert. Kurz gesagt: sie bietet Halt. Der Parlamentarische Rat stand 1949 unter dem Eindruck des Scheiterns einer Verfassung, die 30 Jahre zuvor die erste Demokratie in Deutschland begründet hatte. Diese Weimarer Reichsverfassung hatte sich als zu anfällig erwiesen. Eine Verfassung muss eben nicht nur in ruhigen und geordneten Zeiten anwendbar sein und einen tauglichen Rahmen setzen. Sie muss auch in schwierigen Zeiten Stabilitätsanker sein. Eine wichtige Lehre aus dem Jahr 1933 war damals: eine Verfassung darf nicht so geschrieben sein, dass sie in ihrem Kern ausgehöhlt werden und dann einfach abgeschafft werden kann. Und sie muss so angelegt sein, dass sie die Fehlbarkeit und Unvollkommenheit ihrer Anwender aushält. Wahr ist aber auch: die Weimarer Republik ist letztlich nicht an ihrer Verfassung gescheitert. Sie ist daran gescheitert, dass es eine Republik mit zu wenig engagierten Demokraten war. Daraus haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes Konsequenzen gezogen. Sie haben den Gesetzgeber gebunden, und zwar genau an diese Verfassung. Sie haben den Wesenskern unseres Grundgesetzes durch die Verfassung selbst gesichert, und zwar durch die „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 79 Absatz 3. Er lautet: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niederlegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Die Ewigkeitsgarantie umfasst damit nicht weniger als die Gewährleistung von Menschenwürde und Menschenrechten in einem freiheitlich-demokratisch organisierten Staat. Das kann keine Regierung, keine Mehrheit eines Parlamentes, kein Gericht ändern. Daran sind alle gebunden, die Aufgaben in unserem Staat wahrnehmen. 70 Jahre Grundgesetz. Ganz sicher ein Grund zu gratulieren. Aber wer weiß wirklich, was darin steht? Eine ketzerische Frage? Vielleicht. Anders gefragt: Nutzen wir als Politik und Verwaltung dieses Fundament? Vermitteln wir es denen, die für unseren Staat arbeiten? Ich denke da auch an die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die neben den Eltern unsere Kinder und Jugendlichen doch am meisten prägen. Bringen wir es jungen Menschen nahe, die sich mit unserem Land identifizieren sollen? Machen wir den Wert unserer Grundordnung auch als Landesregierung, als Landtag wieder stärker deutlich. Wir verlieren uns zunehmend in vermeintlich wichtigen Fragen der Tagesaktualität. Jagen wir nicht als Politiker wie viele andere Menschen dem hinterher, was gerade die „Topnews“, die „Toptrends“ oder die neuesten Skandale oder Skandälchen sind? Dabei zeigt der Blick auf die „Ewigkeitsgarantie“ sehr deutlich, was Grundlage unserer Arbeit sein muss – und was wir auch mit großer Überzeugung vermitteln müssen:Unser Grundgesetz formuliert als unabänderliche Grundsätze den Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen, die Anerkennung der Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte. Politik und Staat bestehen nicht um ihrer selbst willen. Sie bestehen um der Menschen willen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten 1949 die Diktatur, die Unmenschlichkeit von Herrschaftsmissbrauch und Vernichtung in der Nazizeit klar vor Augen. Deshalb haben sie den Menschen zum Ausgangspunkt des Grundgesetzes gemacht, nicht den Staat.Die Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Demokratie sind in sogenannten Staatsstrukturprinzipien des Artikels 20 verankert. Da geht es um Rechtsstaat, Bundesstaat und Gewaltenteilung, um das Sozialstaatsprinzip und die Demokratie. Diese Demokratie muss immer wieder neu gelebt und geschützt werden. In der Mehrheit aller Staaten ist sie leider nicht die geltende Staatsform. Sie ist eher ein Privileg für eine Minderheit von Staaten, erst recht für eine Minderheit der gesamten Menschheit Und wie wir in den letzten Jahren leider feststellen, ist es auch nicht selbstverständlich, dass sie dort auf Dauer bestand hat, wo sie einmal eingeführt worden ist. Heute scheitern Demokratien nur noch selten durch Militärputsche. Sie gehen auch nicht in Bürgerkriegen unter. Sie scheitern in Wahlen. Sie werden durch Wahlergebnisse gefährdet, die die vermeintliche Legitimation geben, Minderheitenrechte zu beschneiden, die Unabhängigkeit der Justiz aufzuheben oder die Freiheit der Medien zu beseitigen.Barack Obama hat in seiner Abschiedsrede in Chicago – wenige Tage vor dem Amtswechsel – den schlichten, aber zutreffenden Satz gesagt; „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Im Jahr 1989 sind die Menschen in Osteuropa für Freiheit und Demokratie nicht nur auf die Straße gegangen. Sie haben eine friedliche Revolution herbeigeführt. Sie kannten die Diktatur und wollten sie nicht länger ertragen müssen. Denn sie beschränkte ganz konkret die Entwicklungschancen jedes einzelnen Menschen.Sie wollten freie Wahlen, eine unabhängige Justiz, freie Medien und natürlich auch mehr Wohlstand. Diktaturen stellen den Staat und die Herrschenden in den Mittelpunkt. Sie setzen Herrschaft mit Gewalt und Repression durch. Demokratie dagegen eröffnet Chancen zur Mitgestaltung und Mitentscheidung. Demokratie und soziale Marktwirtschaft ermöglichen es den Menschen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen – und das in einem verlässlichen Rahmen. Wir hier in Deutschland, wir in Europa sind aufgerufen, dieses wertvolle Privileg zu wahren und zu schützen. Nicht nur heute, am Verfassungstag. Die nächste Gelegenheit dazu besteht schon am kommenden Sonntag: bei der Europawahl. Es steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt das demokratische Fundament der Europäischen Union.Demokratie bedeutet ja nicht, dass alle Entscheidungen richtig sind. Sie beruht vielmehr auf der Erkenntnis, dass Mehrheitsentscheidungen auch falsch sein können. Aber die Entscheidung der Mehrheit hat zunächst Geltung. Das kann bei den nächsten Wahlen dadurch in Frage gestellt werden, dass das Volk eine andere Mehrheit in die Regierung wählt und diese neue Mehrheit dann andere Entscheidungen trifft.Diese Grundlagen zu vermitteln, ist heute besonders wichtig. Wie häufig treffen wir auf die Meinung, eine Entscheidung sei nicht akzeptabel und zu respektieren, weil sie der eigenen Auffassung nicht entspricht, auch wenn die Entscheidung durch eine legitimierte Mehrheit getroffen worden ist.Dem müssen alle Demokraten entschieden entgegentreten. Denn zur Demokratie gehört es ganz entscheidend, dass alle die gemeinsam festgelegten Spielregeln akzeptieren. Heute ist der Tag, sich zu vergewissern, dass wir alles unternehmen werden, um unsere demokratischen Grundfesten zu sichern und zukunftsfest zu machen.
Hier können Sie die Rede ebenfalls nachlesen: Rede MO Grundgesetz 23.05.2019